Dem Stammleser dieses Blogs sei vorab gesagt – der folgende Artikel enthält keine Abhandlungen von Kettenabwürfen, kaputten Umwerfern, Platten (trotz oder sogar wegen tubeless?) oder Wahoo/Komoot/Strava Fehlplanungen. Wer denkt, das liegt nur an der professionellen Vorbereitung des Artikel-Verfassers, der täuscht sich. Der Laufsport braucht keine Kette oder Reifen, und gilt daher als sehr pannensicher – oder hat jemand mal einen Läufer im Wald gesehen, der Werkzeug brauchte? Aber genug der Einleitung…
Nach meiner Krebs-Pause 2020 gab es einige Radfahrten aber keine wirklichen sportlichen Ziele oder Rennen. Göttingen 2023 zählt für mich nicht als Rennen – man kann bis 9:00 Uhr schlafen, die Strecke ist schön – und auch für den ambitionierten Hobby Radler machbar. Eine Arbeitskollegin aus UK und ein Studienfreund aus dem Nachbarort fragten mich innerhalb kurzer Zeit beim gemeinsam „Feierabendlauf“ -> Wieso ich denn nichtmal einen Marathon laufe…
Ich habe einige Tage überlegt, aber keine wirklich gute Ausrede gefunden… Das „Projekt Marathon“ war geboren. Es sollte der München Marathon am 08. Oktober 2023 sein, da dieser auch von meinem Studienfreund und Autor meines Trainingsplans anvisiert wurde 🙂
Also ging es nach einigen Trainingsläufen zur Laufanalyse nach Offenbach https://schneider-piecha.de/ (dem Sanitätshaus, in dem auch https://fahrradbiometrie.de/ ansässig ist). Es gab Laufschuhe von Brooks-Ghost mit speziell angepassten Lauf-Einlagen. Zudem wurde zur Telemetrie/Unterhaltung beim Training eine Apple Watch SE 2022 (40mm) angeschafft.
Da nur (gutes) Material kaufen noch keinen Läufer „schnell“ gemacht hat, wurde auch trainiert. Etwa 100- 130km / Monat. Grob eingeteilt in langweilige GA1 Ausdauereinheiten, Intervalleinheiten und wenige schnellere aber kürzere Läufe.
Zum Thema „schnell“ und „langsam“ ergibt sich noch die Frage – was ist eigentlich das Ziel des Projekts Marathon? Zur Auswahl standen: 1. Dabei sein ist alles, 2. Hauptsache ankommen, (es ist ja schließlich der erste Marathon) oder 3. ein Zeitziel. Die Auswahl ist auf 3. gefallen – als Freund von „runden“ Zahlen wurde das Ziel ausgerufen, Marathon in unter 4h.
Mit einer Zielzeit von 4h schlägt man in der Regel 50% der erfolgreichen (also ins Ziel gekommenen) Läufer. Da Laufsport seine eigenen Regeln hat, wird immer von „Pace“ geredet, wenn es um Geschwindigkeit geht – genau genommen ist das der Kehrwert selbiger. Die Einheit der Pace ist min/km. Für das angestrebte Ziel müssen die 5:41 min/km unterboten werden…
In der Woche vor dem Marathon gab es Koffein-Verbot, Laufverbot (aber nur für mich, mein Coach musste unbedingt „weitertrainieren“) – und 3 Tage vorher wurden bereits viele Kohlehydrate gespachtelt. Der Tag vor dem Wettkampf wurde in Ingolstadt zum Auffüllen der Flüssigkeitsspeicher und für einen 6 km „Aktivierungslauf“ genutzt.
Der Wettkampf startete in Startblock B um 9:05 (theoretisch) bei perfektem Wetter. Die Startblockzuteilung war durch reines Eintragen einer Zielzeit beim Anmelden erfolgt. Die sogenannten „Pace-Maker“ waren sinnigerweise alle auf 9:00 getrimmt, sodass es für mich, mit der realen Start-Linien-Überquerung um 9:08,1s – komplett nutzlos war, mich an einer solchen Gruppe zu orientieren. Also musste ein teuflischer Plan her – nur die Apple-Watch und ich – gegen die „Uhr“.
Dank Wettkampfaufregung war der Puls direkt nach dem 1. km bei 159 bpm. Die Idee war einfach: Sich über die ersten 21km einen kleinen Puffer zu erarbeiten, ohne dabei zu viele Körner zu lassen. Mein längster Trainingslauf waren 30km. Alle sagten mir – bei km 30 kommt der Mann mit dem großen Hammer. Da es Berge nicht gab, und Windschatten beim Rumgurken mit 10-11km/h nichts bringt, konnte man sich voll auf Puls/Pacing und regelmäßiges Trinken konzentrieren. Es wurden 4x 67ml Hydro-Gels in der Geschmacksrichtung orange ins Radtrickot (ja, liebe Radsportfreunde, doch noch was gefunden :)) und 2x Hydro-Gels Cola (mit jeweils 100mg Coffein) in die Laufhosentasche gesteckt. Die Laune war gut, die Pace (5:33) und der Puls (=165 bpm) stabil. Jeder km wurde mit Vibrations-Alarm der Apfel-Uhr zelebriert. Die ersten Gels wurden bei km 7 und 14 bzw. 20 aus dem Trikot gezaubert. An den Verpflegungsständen wurden aus dem Lauf heraus Wasserbecher mit genommen bzw. getrunken – und in einigen Fällen sogar fachgerecht durchs Werfen in die aufgestellten Müllbehälter entsorgt. Von km 7 bis 20 war der Puls bis auf +- 1 Schlag angetackert bei 165 bpm und jeder km ergab einige Sekunden zusätzliches „Polster“. Alles in allem eine perfekte 1. Hälfte. (5:33,7 Gesamt-Pace); zur guten Stimmung haben neben vielen Zuschauern an der Strecke zwei Live Bands beigetragen.
Bei km 21+22 war es dann soweit -> die Wohlfühl-Pace ist auf 5:45 und 5:46 „eingebrochen“, der Puls blieb stabil bei 165 bpm. Ein Joker musste her, diese Zeiten bis km 42 halten zu wollen, ohne auch nur eine Sekunde Reserve zu haben, grenzt an russisch Roulette. Vor allem, was tückisch ist: Wer sagt einem, wie lang die Strecke laut GPS-Uhr ist? Wer garantiert mir, dass ich 42,19 km laufe – und nicht 42,3 oder sogar 42,5, weil „kein Grip auf der Ideallinie“ war? Steve Jobs leider nicht mehr… 🙁
Der Joker hieß Hydro-Gel Cola und wurde aus der Tasche gezogen. Das Gel habe ich langsam über 1,5km verteilt zugeführt, um langfristige Wirkung zu erzielen. Die Pace ist auf den folgenden 3 km wieder deutlich unter 5:40 gewesen, und hat den Puls auf 173bpm gehoben, aber mich zurück auf Kurs gebracht (25km, Pace 5:34,6). Ein Glück, waren es nur noch 17,2 km bis ins Ziel, weshalb ich den Joker an der Stelle Trick 17 taufe.
Zitat „Die ironische Wendung „Trick 17 mit Selbstüberlistung“ bezeichnet jedoch als spöttischer Kommentar einen (meist vermeintlich raffinierten) Lösungsansatz, der auf mehr oder minder komische Weise scheitert.“
Das waren also super Aussichten. Zurück zum Renngeschehen – der 28. km wurde mit 5:45 zurückgelegt, welcher natürlich etwas Puffer kostete, aber etwas Puffer ist ja eingeplant. Km 29-32 grenzten an einer Katastrophe. Trotz trinken bzw. Gel Einsatz war die Pace bei 6min. 10km bis zum Ziel und die Sicherheit – das ist zu langsam! Die Beine beginnen an zu brennen – der Mann mit dem großen Hammer ist da! Dieser bringt nicht nur Schmerzen, sondern laut Puls-Uhr auch einen niedrigen Puls von „nur noch 166 bpm“. Und alle Sportler wissen es – Puls ist wie Spülmittel: Viel hilft viel!
Die folgende Methode ist nicht zum Nachmachen zu Hause geeignet: Externes Pacing – sich an jemand oder jemandin dran hängen, die eigentlich zu schnell läuft, sämtliche Körperreaktionen / Kopfbefehle ignorieren – einfach nur hinterher! DANKE Sophie #2740 – Das Highlight der Aktion: bei km 34 und 35 mit jeweils 5:34 und 176 bpm.
An der vorletzten Verpflegungsstation bei km 36 oder 37 verliere ich Sophie, warum genau weiß ich nicht mehr. Die Pace war gut, der Puls weiter im Anschlag. Dass diese Aktion natürlich nicht ohne Folgen bleiben sollte, zeigt sich nach km 39. Ein Gefühl von leicht einsetzenden Krämpfen und katastrophaler Pace von 6:21. Auf die Uhr gucken und noch irgendwas „checken“ – Fehlanzeige. Ob die Kilometer auf den Schildern noch zu jener auf der Uhr passen – kA. Die Apple-Watch hat auf jeden Fall schon was von 5% oder 10% Akku – bitte Laden angezeigt – und ist daher nicht mehr mein Trumpf. Die letzte Verpflegungsstation baut sich vor mir auf. (Da gehen ja wohl nur die hin, die sich ihr Rennen schlecht eingeteilt haben…..)
….und ich! – Die Angst, beim Anhalten Krämpfe zu kriegen und, wie schon viele andere Mitläufer am Straßenrand zu liegen, wird ignoriert – Alle mit genommenen Gels waren alle. Es folgt kurzes Gehen und Wasser, ekeliges Iso und ein Stück Banane! Es folgt das letzte Loslaufen, erfreulicherweise ohne Krampf 🙂 Es sind nur noch 2,2km – und die Uhr zeigt 5:40 gesamt Pace, das kann zu viel sein… Das Einlaufen Richtung Olympia Park/Station ist voller Zuschauer gespickt. 5:32 und 5:35 mit 178bpm – mit dem Gefühl es KÖNNTE reichen. „Schlusssprint“ (350m mit 5:15).
Ich drücke „Training-Beenden“ auf der Watch – sie zeigt 3:59min 27s. Das offizielle Timing bestätigt eine 3:59:28s. Ich kann kaum noch gehen, aber verdrücke einige Freuden/Stolz-Tränen – Das gesetzte Ziel „einfach nur für mich“ ist erreicht! Besonders wenn ich daran denke, dass ich vor genau 3 Jahren am „Tropf“ hing und sportlich gar nichts mehr konnte… So kann ich heute wieder sagen: Läuft bei mir – diesmal aber im besseren Kontext!
Ich danke an der Stelle allen, die mich auf dem Weg dahin unterstützt haben!